Montag, 22. Oktober 2012

Papier

Beschriebenes Papier, das stirbt so hin.
Wie sie sich alle wehren und sagen:
nicht so schlimm, wir schwinden hin.
Du reimst jetzt besser nicht
der Wind reimt auch nicht, rauscht
Die Blätter in der Luft sind rot und alt
Die Schrift ein Kritzelzeichen auf
den regenüberwachsenen Wänden
jeder Tropfen schließt ein Zeichen
das zerfließt und unbeschreibbar wird
All die Edikte der Dichter sind so
königlich, wertlos, schlecht und ärmlich
Ich muss Diktator werden, verweht
muss all mein Wollen sein, nur Stiefel
brauch ich um zu marschieren durch
die schweren Marsche des Blätterwalds
am Rand der intellektuellen, kalten Tiefsee
Schlamm, Schlamm, du bist mein Wegzeichen
dich trinke ich, du bist mein Rausch
Rauscht es nicht schon im Blutschwamm
im Gehirn, dem verrauschten Programm?
Wächst dort nicht ein Baum, ein Zeichen
auf dem Löschpapier, das sich in den
Kapillaren fortpflanzt wie eine Pflanze
wie ein Gewächs, ein Gehirnbaum
eine grüne Struktur auf dem Papier aus Holz?
Da strecke ich der Linde meinen ausgedörrten Ast
zum Gruße in die Krone, König auch sie
aber kein Diktator, weil nicht gut zu Fuß
Beschriebene Blätter, die sterben so dahin
Lindenblüten, Buchenstäbe, Lider über
meinen herbstgefärbten Augen unterm
Sonnenrad, das mir mit Klingen den Verstand
abmäht – und ich senke die Sicheln aus Haut
über die Mandeln der Augen, und ich fühle mich
wie Pelikantinte, tintenblau im Himmel

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Freitag, 19. Oktober 2012

In den letzten Tagen hat (mein Sohn) Tristan viel über den Tod nachgedacht. Und dann kam ihm in den Sinn, so erzählte er mir, dass man wiedergeboren wird, und dass im nächsten Leben ich vielleicht seine Mutter werden würde, und er und seine jetzige Mutter wären meine Kinder. Aber vielleicht wird auch, so dachte er vor sich hin, sein Kaninchen Gretchen seine Mutter werden.
Wir haben uns im herbstlichen Garten lange darüber unterhalten, und ich war völlig fasziniert davon, wie komplex ein gerade vier Jahre alt gewordenes Kind schon denken kann. Ihm kommt das doch recht anspruchsvolle Konzept der Reinkarnation einfach so in den Sinn. Es könnte aber andererseits bedeuten, dass sein Denken, seine Vorstellungsgabe gar nicht so begnadet ist, sondern vielmehr beseelt, und dass ihm der Gedanke in den Sinn gekommen ist, weil er sich in ihm als wahr erwiesen hat, weil Tristan mit vier Jahren noch näher an der Pforte seines früheren Lebens steht, diese Pforte noch nicht ganz geschlossen ist, ein Abglanz seines alten Lebens in ihn hinein leuchtet.
Na, dann wollen wir mal hoffen, dass er nicht der nächste Dalai Lama ist.

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Dienstag, 16. Oktober 2012

Nervös war ich den ganzen Tag schon, alles zentrierte sich in meiner Lunge und ließ sie keuchen. Eine Steckfigur aus Nervensträngen war ich. Blödes Mini-Steck in vielen Farben. Kinderkrankheiten durchfuhren meinen Körper. Schwer ausgelacht war ich von meinen Innereien. Also war dieser Tag zusammengefaltet und als schranktrockene Wäsche in die Kammer gestellt. Und hoppla, hier sitz ich, zentriert in der Kammer mit einem Herz, das Annoncen über seine Misere in den zahnpasta-geschrubbten Himmel setzt. Da fliegt es vorbei. Ich muss meine Brille aufsetzen um lesen zu können, was dort durch meinen Liquor flattert.
Ruhig, Pferd, ruhig, das Ende das Tages ist schon längst erreicht. Und dort (dort, genau dort, ach) war ich zuvor: im Autorenforum Berlin. Und die Madeleines wurden in meinen Kopf getunkt. Verzeihung, noch etwas Tee, Herr Voß? (Nein, lieber Codein).
Hätten meine nervösen Zustände mich nicht aus dem Haus getrieben, wäre ich nicht in dieser Erinnerung angekommen; aber lasst uns vom Beginn an beginnen, Brüder und Schwestern (Sisters & Brothers, ihr seit doch seid Jahren, Jahren, Jahren mir in den Nacken festgeklammert).
Um acht Uhr fand ich mich ein im Autorenforum in Steglitz und hörte mir auf dieser offenen Lesebühne zwei Texte an. Und saß danach am Kneipentisch mit Henry Kersting und Rainer Schildberger, die kaum älter geworden zu sein schienen. Und ich verwechselte die Jahrzehnte ohne betrunken zu sein.
Aber dann, aber dann hatte ich es wieder im – nennen wir es – Gedächtnis. 1993 kam ich zum ersten Mal ins Autorenforum, das seinerzeit noch im Schauplatz in der Dieffenbachstraße residierte, einem runtergerockten Off-Off-Theater im übrig gebliebenen West-Berlin. Endlich war ich in der Kunst angekommen. Relativ frisch aus der Provinz in die kommende Weltstadt geschossen war ich, Kreuzberg würde mindestens der Nabel der Welt sein, und im Autorenforum hingen Schriftsteller rum, echte Schriftsteller, unbekannt zwar noch, aber mit großen Gesten, die von kleinen Händen ausgeführt wurden. Ich hatte rosafarbene Haare und sechs Ringe im linken Ohr (zwei im rechten), ich war heiß auf Boheme. Judith Herrmann las dort, Felicitas Hoppe, Ursula … (wie war doch gleich der Nachnahme?) ... und ich. Ich scheiterte. Aber das war nicht schlimm, das war lehrreich. Noch heute ist mir der Schweiß in Erinnerung, der mir in einer Sommernacht an den Flanken entlang tropfte, als ich eine unsäglich kitschige Short Storie über den spanischen Bürgerkrieg vortrug. Mit Emphase, mit schlimmer Überzeugung. Mit dem Gefühl im Boden zu versinken, je mehr Zeilen ich hervor stammelte.
Das war vor der Zeit von lauter niemand, das war vor der Zeit, bevor ich gerade Zeilen schrieb. Und jetzt ist es Steglitz geworden, und ich Friedenau. Alte Bohemiens und reguläre Lesungen auf offenen Bühnen.
Ich habe dort viel gelernt, und ich komme von Zeit zu Zeit gerne dorthin zurück (Vorspiel im Himmel; call me F.A.U.S.T... or call me U.N.C.L.E). Ich höre zu und fühle mich jung und alt. Aber wenn ich meinem Sohn davon erzählen wollen würde, in Zeiten die noch vor mir liegen, dann wäre mir das Gehirn so konfiguriert, dass ich kaum mehr heraus bekommen würde, als in diesem Eintrag eingetragen ist. Stuss auf mittlerem Niveau. Hoch wird es dann die Nachwelt schätzen. Wenn sie es findet. Aber nichz dauert an, alles ist eitel. S.E.L.A. - Psalmenende (Benn-de).

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Donnerstag, 11. Oktober 2012


Eine der unterschätzten Bands der 80er Jahre war sicherlich OPAL (gegründet von Dave Roback, der einige Jahre später MAZZY STAR zusammenstellte). Supercoole, schwer gehirnverwirrende Musik. Ich kaufte die LP 1987 bei fairy records in der Kaiserstraße/Karlsruhe (das war der beste Plattenladen im Umkreis von mindestens 300 Kilometern, Mitte der 80er Jahre; die hatten sogar Platten von Soviet France und Bootlegs von den 13th Floor Elevators). OPAL bekam ich damals von dem Bassist meiner ersten Band empfohlen. Ich hab die Scheibe noch heute. Und dieser Song dröhnt! 


Von SOVIET FRANCE gesprochen (oder :Zoviet France:, wie sie sich heute nennen), für diese Band war ich in den 80ern noch nicht reif, im Alter von fünfzehn, sechszehn Jahren fand ich diese Art von Geräusch-Musik noch zu extremistisch (mittlerweile find ich sowas klasse). Zudem waren ihre Platten,  die in merkwürdig gestalteten, limitierten Auflagen heraus kamen wahnsinnig teuer, teilweise 50 Mark für ein Album. Ich hörte mir die Sachen aber ab und an bei fairy records an und vernahm vom Plattenaufleger Thomas mysteriöse Geschichten über die Band. Niemand wusste wer dort Mitglied war, und die Band galt als eine Art von Geheimorden (ähnlich wie das Projekt PSYCHIC TV). Gekauft habe ich mir dann doch lieber die neueste Tom Waits oder ein Bootleg von Joy Division.


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Da ich zur Zeit intensiv an meinem neuen Roman arbeite, komme ich kaum dazu an diesem Blog zu schreiben. Deshalb etwas Pausenmusik.


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Dienstag, 2. Oktober 2012

(Ein Gläschen Südwein neben meinem Notebook. Südwein, Süßwein, Desertwein – schöne, gluckernde Worte. Im Moment trinke ich einen Spätburgunder gemischt mit Sherry. Ich weiß, das hört sich barbarisch an, schmeckt aber gut).

Was mich immer schon gewundert hat ist, dass sich alle – jedenfalls die Leute in den üblichen Medien – darüber beklagen, dass die Geburtenrate in Mitteleuropa schwindet. Ich kann das Problem nicht erkennen, vielmehr ist das doch ein unfassbarer Vorteil für den Kontinent, der seit dem letzten Jahrhundert deutlich überbevölkert ist. Alle Landschaften sind zersiedelt, durchschnitten von Myriaden von Straßen, zugepflastert und versiegelt mit Beton und Asphalt.
Noch in meiner Kindheit, selbst noch zu der Zeit, als ich nach Berlin kam, waren die Städte umgeben von Brachland, Wiesen, Wäldern. Unbehauste Natur. Jetzt stehen dort Einkaufszentren und Baumärkte. Wenn endlich wieder, in dreißig, vierzig Jahren, Europa leerer wird, könnten wir ganze Landstriche der Wildnis zurück geben. Endlich Platz.
Stattdessen jammern alle über die Rente. Aber wenn durch den Rückgang der Bevölkerung auch die Kaufkraft schwindet, werden die Waren des täglichen Lebens durch mangelnde Nachfrage wieder günstiger werden. Und die Renten werden sogar dazu reichen, ein Haus in Brandenburg zu kaufen, denn diese Häuser in den verlassenen Dörfern werden schon in zwanzig Jahren kaum mehr als zwei, drei Monatsgehälter kosten.
Aber anstatt dass diese Gesellschaft die Möglichkeiten der Leere nutzt, baut sie weiter.
Zur Zeit ist eine Initiative entstanden, die die Leerflächen des Kulturforums am Potsdamer Platz schließen will. Sowohl die Matthäuskirche als auch die Neue Nationalgalerie sollen von Blockbebauung eingefasst werden, und auch das weite Areal vor der Gemäldegalerie soll weichen. Als hätten die Alten Angst vor der Leere, der Weite, als würde es sie an ihr eigenes Verschwinden erinnern.
Wieso erfreuen wir uns nicht an der Leere, lassen auch Brachflächen wieder zu, die fast alle seit der Wende verschwunden sind. Kein Mensch braucht all diese Büros.
Und selbst wenn wir uns das in den Städten nicht leisten wollen, weil die Alten günstige Infrastruktur brauchen; auf dem Lande könnten wir die Wildnis zurück kehren lassen. Man würde ganze Dörfer in der Uckermark räumen, die letzten Bewohner in den Speckgürtel von Berlin umsiedeln – zahlt man den Leuten ein wenig Geld, wäre das kein großes Problem. Die ganz Alten sterben bald, die Jüngeren wollen lieber heute als morgen weg, wenn sie es sich leisten können.
Und sollten dann die Dörfer der Uckermark geräumt sein, wird das ganze Gebiet umzäunt (ein freundlicher Eiserner Vorhang) und hinein kommt man nur ohne Motor-Fahrzeuge, ohne den Plunder des modernen Lebens. Zu Fuß oder auf dem Pferd darf man dann in das neue, unbekannte Land ziehen. In die WÄLDER.
Wölfe gibt es dort ja schon; man könnte noch Luchse ansiedeln, ein paar Wisente, ein paar Großtrappen. Der Wald wäre sich selbst überlassen, und schon nach fünfzig Jahren sähe es in dieser Zone aus, wie im frühen Mittelalter. Ein Dickicht, ein Märchenwald, eine Wildnis.
Und dort würde ich gerne meinen Lebensabend verbringen, in einer Blockhütte, an einem See. Der Himmel weit und klar, die Tannen ein einziges, dunkles Rauschen, und in der Nacht heulen die Wölfe.
Es hört sich romantisch an, es scheint ein weltabgewandter Traum zu sein, aber es wäre möglich, noch zu unserer Lebenszeit.


Stattdessen der nächste Baumarkt, das nächste Maisfeld für die nächsten Großraum-Autos. Wachstum, Fortschritt, Niedergang.

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In nichts kann ich mich zur Zeit so vertiefen, wie in Schach. Neben dem Schreiben ist es das Einzige, bei dem ich in den flow tauchen kann. Ich leihe mir ein Schachbuch nach dem anderen aus der Bibliothek und entdecke taktische Möglichkeiten, die ich auf diesen 64 Feldern nicht für möglich gehalten hätte. Das Spiel ist eine Mischung aus Krieg und Tanz. Und ich stolpere mittlerweile nicht mehr ungelenk durchs Feld oder über den Tanzboden. Stufe 4 von Chess Titans nutze ich nur noch, um verschiedene Angriffsstrategien zu üben; kaum zu glauben, dass dieses Level mir vor einigen Wochen noch einige Schwierigkeiten bereitet hat.
Besonders gut gefällt mir zur Zeit die Vorgehensweise Karpows im Kandidatenmatch 1974 (ich schrieb bereits davon). Dieses brachiale Reinhauen mit zwei Türmen und der Dame in die Königsflanke; wenn der König nicht erfahren genug ist, hat er nicht den Hauch einer Chance.
Karpow war sowieso ein großartiger Schachspieler, nicht ohne Grund ist er jahrelang Weltmeister gewesen. Doch galt er immer als ein etwas farbloser, zurückhaltender Spieler (habe ich gelesen). Dabei geht er mit einer unglaublichen Eleganz vor, zwar kühl und wohldurchdacht, und auch ganz ohne spektakuläre Opfer und dergleichen, aber doch mit einer scheinbaren Leichtigkeit, die mich völlig fasziniert (jedenfalls in den Partien, die ich bislang durchgespielt habe).
Ich kann mich gut an ihn erinnern, als er in dem schwarzweißen Fernsehgerät auftauchte, mit dem in den 70ern Jahren auch Jochen Mass und Muhammad Ali in unser Wohnzimmer übertragen wurde. Seinerzeit war Schach eine populäre Sportart (ein Kampf der Gehirne im Kalten Krieg), über alle Weltmeisterschaftskämpfe von Kasperow gegen Karpow wurde in verschiedenen Fernsehsendungen berichtet. Ich habe jetzt noch dieses geheimnisvolle, fremde Gesicht von Karpow vor Augen – ein Mann aus der Welt hinterm Eisernen Vorhang. Ich mochte dieses Gesicht. Das Kind, das ich war, mochte dieses Gesicht. Vielleicht habe ich wegen diesem Gesicht damals angefangen Schach zu spielen (und schnell wieder aufgegeben). Und es ist nur folgerichtig, ist geradezu eine späte Verbeugung, dass ich wieder mit Karpows Partien beginne.

Die Dame stand vorher auf e3

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