Samstag, 30. Juni 2012

Die schönsten Platten waren natürlich die der ARCHIV-Serie der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Es gab nichts, was ich in meiner Kindheit zu Gesicht bekam, das eine derartige Distinguiertheit ausstrahlte, nichts, was dem Besitzer einen dermaßen großen, goldenen (und dabei natürlich unsichtbaren) Orden der Bildung ans Revers heftete.
Mein Großvater hatte einen kleinen Stapel dieser LPs. Sie standen neben der – so sagte man mir – sehr teuren HiFi-Anlage im Klavierzimmer, und durften genauso wenig von einer Kinderhand berührt werden wie die Anlage von Sony. Ganz selten nur wurde eine der Platten aufgelegt, denn mein Großvater hatte schon lange vor meiner Geburt das Klavier spielen eingestellt und danach auch keine Berechtigung mehr gesehen, andere Pianisten zu hören.
Auch seine künstlerische Arbeit war genauso unbarmherzig von ihm eingestellt worden, wie Jahrzehnte später das Rauchen – von einem Tag auf dem anderen. Während meiner gesamten Kindheit stand sein letztes, unvollendetes Werk zwischen Klavier und Stereoanlage; ein Kinderporträt aus Ton, das noch auf dem Arbeitsstativ steckte und einstaubte.
Er hatte früh mit der Bildhauerei angefangen, war aber immer zu kritisch gewesen, zum einen, weil sein Vater ein angesehener Maler gewesen war, zum anderen, weil er nicht genug Geld für seine sechsköpfige Familie damit verdienen konnte. Aber überall standen noch Steinköpfe und Holzfigurinen in den Zimmern, und im winzig kleinen Garten ein lebensgroßer Akt aus Granit, der, wie ich viel später erfuhr, meine Großmutter darstellte. So verbachte ich jeden Sommer im Haus eines Künstlers, der kein Künstler mehr war. Der aber immer noch Gedichte schrieb, wie er es wohl seit seiner Jugend getan hatte, und die er zusammen mit Arbeiten anderer semiprofessioneller Schriftsteller in einer selbst edierten Zeitschrift veröffentlichte. Die Zeitschrift hieß „Phönix“, und er setzte und druckte sie mit einem der ersten Heimcomputer, einem dunkelgrauen Ungetüm ohne Bildschirm, das mit einem Staubfang abgedeckt in seinem Arbeitszimmer stand.
Wenn wir in den Sommerferien bei den Großeltern logierten, schliefen mein Bruder und ich dort auf zwei alten Betten aus lackiertem Stahlrohr, die wie die Flügel des Tores zur Hölle quietschten. Und mein Großvater verbot mir, den Staubfang wegzuziehen, um diese dunkle Maschine zu betrachten, denn die hätte so viel gekostet wie ein Kleinwagen. So kam es, dass mir erst später klar wurde, dass mein Großvater vermutlich zu den zwei Dutzend Privatleuten in Den Haag gehörte, die schon 1974 einen eigenen Computer hatten. Anfang der 80er kaufte er sich dann die erste elektrische Schreibmaschine mit Display und Speicher, ein Gerät von Sony. Da hatte ich gerade selbst angefangen zu schreiben, und ich beneidete ihn sehr um dieses Gerät. Nach seinem Tod ist es vermutlich für zehn Gulden bei einem Trödler verkauft worden.
Vor einigen Jahren habe ich mir beinahe die gleiche Schreibmaschine bei Ebay ersteigert, aber was würde ich damit angefangen haben, letztendlich, ich war mir nicht einmal sicher, ob es noch das passende Thermopapier gegeben hätte.
Stattdessen sammele ich nun schon seit einigen Jahren die ARCHIV-Platten der Deutschen Grammophon, die man für ein, zwei Euro auf dem Flohmarkt bekommt. Ich liebe nach wie vor ihr schlichtes, distinguiertes Design, und mittlerweile höre ich sie auch, ich habe ja keine Kinderhände mehr (und ich verwahre sie außer der Reichweite meines Sohnes) . Die dort archivierte Musik entspricht genau meinem Geschmack; Klassik in „Historisch informierter Aufführungspraxis“. Bach auf dem Cembalo, Mozart auf dem Hammerklavier, Dowland auf der Knickhals-Laute, aufgenommen in den späten 50ern, als bei allen anderen Schallplattenfirmen Bach auf dem Klavier gespielt wurde, Mozart ebenfalls, und Dowland auf der Gitarre. Was für akustische Sensationen müssen das gewesen sein im Jahre 1957. Haydn auf einem Graf-Fortepiano, Lieder von Ludwig Senfl, begleitet mit Zinken und Pommern! ARCHIV, dein Name sei der Name der schönsten aller Platten!


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