Samstag, 30. Juni 2012

Die schönsten Platten waren natürlich die der ARCHIV-Serie der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Es gab nichts, was ich in meiner Kindheit zu Gesicht bekam, das eine derartige Distinguiertheit ausstrahlte, nichts, was dem Besitzer einen dermaßen großen, goldenen (und dabei natürlich unsichtbaren) Orden der Bildung ans Revers heftete.
Mein Großvater hatte einen kleinen Stapel dieser LPs. Sie standen neben der – so sagte man mir – sehr teuren HiFi-Anlage im Klavierzimmer, und durften genauso wenig von einer Kinderhand berührt werden wie die Anlage von Sony. Ganz selten nur wurde eine der Platten aufgelegt, denn mein Großvater hatte schon lange vor meiner Geburt das Klavier spielen eingestellt und danach auch keine Berechtigung mehr gesehen, andere Pianisten zu hören.
Auch seine künstlerische Arbeit war genauso unbarmherzig von ihm eingestellt worden, wie Jahrzehnte später das Rauchen – von einem Tag auf dem anderen. Während meiner gesamten Kindheit stand sein letztes, unvollendetes Werk zwischen Klavier und Stereoanlage; ein Kinderporträt aus Ton, das noch auf dem Arbeitsstativ steckte und einstaubte.
Er hatte früh mit der Bildhauerei angefangen, war aber immer zu kritisch gewesen, zum einen, weil sein Vater ein angesehener Maler gewesen war, zum anderen, weil er nicht genug Geld für seine sechsköpfige Familie damit verdienen konnte. Aber überall standen noch Steinköpfe und Holzfigurinen in den Zimmern, und im winzig kleinen Garten ein lebensgroßer Akt aus Granit, der, wie ich viel später erfuhr, meine Großmutter darstellte. So verbachte ich jeden Sommer im Haus eines Künstlers, der kein Künstler mehr war. Der aber immer noch Gedichte schrieb, wie er es wohl seit seiner Jugend getan hatte, und die er zusammen mit Arbeiten anderer semiprofessioneller Schriftsteller in einer selbst edierten Zeitschrift veröffentlichte. Die Zeitschrift hieß „Phönix“, und er setzte und druckte sie mit einem der ersten Heimcomputer, einem dunkelgrauen Ungetüm ohne Bildschirm, das mit einem Staubfang abgedeckt in seinem Arbeitszimmer stand.
Wenn wir in den Sommerferien bei den Großeltern logierten, schliefen mein Bruder und ich dort auf zwei alten Betten aus lackiertem Stahlrohr, die wie die Flügel des Tores zur Hölle quietschten. Und mein Großvater verbot mir, den Staubfang wegzuziehen, um diese dunkle Maschine zu betrachten, denn die hätte so viel gekostet wie ein Kleinwagen. So kam es, dass mir erst später klar wurde, dass mein Großvater vermutlich zu den zwei Dutzend Privatleuten in Den Haag gehörte, die schon 1974 einen eigenen Computer hatten. Anfang der 80er kaufte er sich dann die erste elektrische Schreibmaschine mit Display und Speicher, ein Gerät von Sony. Da hatte ich gerade selbst angefangen zu schreiben, und ich beneidete ihn sehr um dieses Gerät. Nach seinem Tod ist es vermutlich für zehn Gulden bei einem Trödler verkauft worden.
Vor einigen Jahren habe ich mir beinahe die gleiche Schreibmaschine bei Ebay ersteigert, aber was würde ich damit angefangen haben, letztendlich, ich war mir nicht einmal sicher, ob es noch das passende Thermopapier gegeben hätte.
Stattdessen sammele ich nun schon seit einigen Jahren die ARCHIV-Platten der Deutschen Grammophon, die man für ein, zwei Euro auf dem Flohmarkt bekommt. Ich liebe nach wie vor ihr schlichtes, distinguiertes Design, und mittlerweile höre ich sie auch, ich habe ja keine Kinderhände mehr (und ich verwahre sie außer der Reichweite meines Sohnes) . Die dort archivierte Musik entspricht genau meinem Geschmack; Klassik in „Historisch informierter Aufführungspraxis“. Bach auf dem Cembalo, Mozart auf dem Hammerklavier, Dowland auf der Knickhals-Laute, aufgenommen in den späten 50ern, als bei allen anderen Schallplattenfirmen Bach auf dem Klavier gespielt wurde, Mozart ebenfalls, und Dowland auf der Gitarre. Was für akustische Sensationen müssen das gewesen sein im Jahre 1957. Haydn auf einem Graf-Fortepiano, Lieder von Ludwig Senfl, begleitet mit Zinken und Pommern! ARCHIV, dein Name sei der Name der schönsten aller Platten!


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Donnerstag, 28. Juni 2012

Gerade, nachdem ich den Abend in meiner stillen Kammer verbrachte hatte, die auch still geblieben war, weil offenbar die deutschen Fußballdeppen verloren haben, und in der ich zehntausend Zeichen in die schäbige Tastatur meines Laptops Baujahr 1998 gehackt habe; gerade nachdem ich die Kammer mit teerverklebten Lungen und rotweindurchschossener Leber verließ, musste ich an Radio 100 denken.
Ich hatte in der Anthologie "Vogel oder Käfig sein", die die Samisdat-Druckerzeugnisse der späten DDR Revue passieren lässt, einige Gedichte von Rüdiger Rosenthal gelesen, der mir kein Begriff war. Beim Googlen entdeckte ich, dass er wohl das lyrische Schreiben nach der Wende eingestellt und stattdessen Journalist geworden war. Unter anderem bei Radio 100.
Auch das ist völlig verschwunden, kaum noch ein Gerücht, schon zwanzig Jahre her. Ich war gerade in Berlin angekommen, hauste in der düsteren Parterrewohnung meines Bruders, der für ein geschätztes Jahr nach Leningrad gegangen war (so hieß das damals noch, mein Sohn), und zählte die Weberknechte an den Wänden des Flurs, trank den Maitre Philippe aus der Flasche und rauchte Senoussi. Und hörte jeden Abend, bevor ich ins Café Anfall ging (oder ins Niagara, oder in den Heidereiter) diesen einen Sender: Radio 100. Das beste Radioprogramm, dass jemals über den Äther ausgestrahlt wurde.
Auch wenn ich nicht mehr sagen kann, was eigentlich genau gesendet wurde, ist schon zu lange her, nur so ein Klumpen Erinnerung ist übrig geblieben, in dem Stimmen sind und Musik. Feeling B wurde dort gespielt, und die ersten deutschsprachigen Platten von Element of Crime. Und Kassettensampler aus der Independent-Szene. Merkwürdige Krachmusik aus dem tiefsten West-Berlin. Und es gab Kulturprogramme für Anarchisten, für Radikale und für Schwule & Lesben (Eldoradio hieß die Sendung und war vermutlich die erste ihrer Art europaweit).
Ich glaube, um 17 Uhr wurden Kultur- und Szenenachrichten gebracht, und die Sendung hieß "Teeschock". Oder hieß die eine "Teerausch" und die andere "Kulturschock"?
Und da war noch viel mehr, aber es verschwimmt mir im Kopfe.
Das eine weiß ich aber noch: wenn eine Straßenschlacht in Kreuzberg oder Friedrichshain stattfand, dann wurde in den Verkehrsnachrichten von Radio 100 auf die gesperrten Straßen hingewiesen: "Liebe Leute, auf der Oranien- und Wienerstraße ist alles zu wegen eines Polizeieinsatzes. Bitte umfahrt den Bereich weitläufig, und, Freunde, geht da bitte nicht hin". (Mach ne Faust aus deiner Hand...)


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Dienstag, 26. Juni 2012

Am gestrigen Morgen stand ich also um Punkt 8.28 Uhr an der Tür, hinter der die Maßnahme wartete. Ich strich mein Haar glatt und ging hinein. Dort saßen knapp zwanzig Arbeitslose um ein Tisch-Hufeisen und starrten mich an. Und der Kursleiter teilte mir zerknirscht mit, dass ich überzählig sei. Denn das Jobcenter würde zu solchen Kursen immer die doppelte Anzahl Teilnehmer verpflichten, in der Erwartung, dass das lasche, arbeitsscheue Pack nur zur Hälfte auftauchen würde. Da aber der arbeitslose Arbeitnehmer von Angst getrieben ist, heutzutage, waren zu diesem Kurs schon vor dem festgelegten Beginn die nötige Anzahl erschienen, so dass ich mir wenige Minuten später mein sinnloses Erscheinen im Sekretariat bestätigen lassen und wieder nach Hause fahren konnte. Und ich fuhr mit meinem Fahrrad durch die Kleingartenanlagen (die Wolken jagten über den Himmel), zwischen der Maßnahmenmisere und meinem Heimathafen, und ich war ernsthaft betrübt. Man wollte mich mal wieder nicht haben. So schade ist das.

Den Tag verbrachte ich dann mit Lesen und Vaterpflichten. Und war sehr froh, am Abend endlich zusammen brechen zu können. Das Leben der Boheme ist hart. Und ich schlief 14 Stunden am Stück einen rauen und schwermetallfarbenen Schlaf, aus dem ich an diesem Morgen ausgemangelt erwachte, um ein wenig zu weinen.
Danach war Korrespondenz zu erledigen, das Kind wollte unterhalten werden, das Wetter war trübe.
Ich las zwischendrin bei Facebook, dass eine Freundin den Jahreszeiten eine neue Abfolge gegeben hatte: Frühling, Arschloch, Herbst und Winter. Aber damit war ich nicht einverstanden, vielmehr müsste man sagen, die Klimakatastrophe beschere uns einen ewigen Herbst. Trakl hätte diese Katastrophe geliebt. Und nebenbei: müsste der Kölner Dom nicht schon halb unter Wasser stehen; gab es nicht in meiner Jugend dieses Spiegel-Titelbild, dass uns so ikonographisch an den Untergang gemahnte?

Am Nachmittag ließ ich mir eine neue Brille anpassen, aus Glas, bei Fielmann, für 35 Euro. Danach wieder auf den Spielplatz, auf dem die Mütter genervt in den Himmel blickten und die Kinder zaghaft mit den Schuhspitzen im Spielsand scharrten. Die wilden Kirschen neben den Kleinkindschaukeln waren noch grün, der Körper, den ich mit mir herumtrug, war ein Schlachtfeld, über das der Krieg schon fort gezogen war, und das nun wüst und eingestampft unter dem Himmel aus weißem Hemd lag.

Ich ging zurück zu meinen Büchern und las über die Spitzel. Und es gab einiges, was mir einfiel, was mich anfiel, als ich über diese Spitzel mir Gedanken machte:
Es sind die Randfiguren, und eben nicht die zentralen Spitzel der Szene vom Prenzlauer Berg gewesen, die sich nach der Wende literarisch durchsetzten konnten; Hilbig und Grünbein haben den Büchnerpreis bekommen, Wawerzinek den nach Ingeborg Bachmann benannten. Wer hätte das gedacht, in den alten Kreisen hinter den sieben Bergen, dass S.C.Happy einmal alle nicht nur überholen, nein überrunden würde.
Mir ist er 1992 als versoffenes Subjekt vorgestellt worden. Der hätte nichts zu sagen, der da, der gerade auf der leeren Bühne der Volksbühne tanzte und Reden schwang, in die leeren Logen hinein, der nicht bei den wichtigen Leuten im Roten Salon oder in der Kantine das Maul aufriss, auf dieser wichtigen Premierenfeier, der lieber den Stühlen etwas erzählte.
So kann man sich irren.

Die zwei Spitzel hingegen, die Hoffnung der gesamtdeutschen Literatur, die einen Nachwendesommer lang herum gereicht wurden, Herr Anderson und Herr Schedlinski sind abserviert (sie werden platziert), der eine verstummt, der andere nahezu. Nichts genaues weiß man nicht. Sie scheinen ihr Geld zu verdienen, sie haben ein Privatleben, sie äußern sich nicht zum Sachverhalt.
Mit dem einen saß ich vor einigen Jahren am Kneipentisch, nach einer Lesung (nicht seiner), und er schien mir ganz guter Dinge. Er erzählte, er hätte eine Gryphius-Erstausgabe im Regal stehen. Und er sprach leise. Und mich überkam ein leichtes Gruseln, wie ich so neben ihm saß.

Das war vor Jahren. Kaum etwas ist übrig geblieben von der einstigen Szene. Ganz historisch ist das alles geworden. Die zwei Spitzel sind vom westdeutschen Feuilleton dazu verwendet worden, die ganze Szene unter den Teppich zu kehren. Papenfuß, Matthies, Jansen, Faktor; wer spricht noch von ihnen? Nur Kolbe hat sich auf ein Treibgutstück retten können.
(Oder liege ich falsch, sehe ich das alles nicht richtig, ist mein nachgeborener, westdeutscher Blick zu astigmatisch? Und wären diese, meine Augen seine, hätte Nicolas Berggruen das genau so gesehen?)

Aber geradezu paranoid macht mich die eine Überlegung: es wird in allen Verlautbarungen zu der Zeit, in den frühen 90ern, als ich gerade nach Berlin gekommen war und als naseweiser Jungdichter im Café Westphal stand, und in die Dämmerung hinein blickte, aus der nur zwei, drei bleiche Köpfe ragten, die vielleicht die angefüllten Schädel von Dichter waren, zu der Zeit also wird immer nur von zwei Spitzeln berichtet, dabei kann man in den übriggebliebenen Akten und Karteikarten nachlesen, dass es einige mehr gegeben haben musste, in der Prenzlauer-Berg-Connection. Doch wer waren sie? Das ist nicht mehr gefragt worden, denn irgendwann im Jahre 1993 waren alle Kombattanten so ermattet von dem Kampf in den Blättern, war auch das Marktgeschehen in den Kulturbeilagen plötzlich auf andere Affairen fokusiert, dass alle ins Schweigen zurück fielen.
Und wieder überkommt mich ein leichtes Gruseln, denn sie sind ja alle noch da, die Schuldigen und die Unschuldigen, aber ich weiß nicht mehr, wer auf welcher Seite der Barrikade nächtigt. Ich könnte auf Lesungen stehen, in der Literaturwerkstatt oder in irgendeinem Club, und neben mir steht ein ehemaliger Spitzel, der mir ein Bier reicht. Oder mir von seiner Gryphius-Erstausgabe flüstert.

(Und die einzigen, die vielleicht bescheid wüssten, wären die Herren (und Damen) vom Verfassungsschutz (deren Akten ich auch einmal gerne einsehen würde), denn sie hatten vielleicht die längsten Finger im Jahr 1990, und sie haben die besten Argumente auch heute noch, die Hunde schnüffeln zu lassen).

Und schrieb dies ein Schuldiger oder ein Unschuldiger?

das zimmer mit den zwei fenstern
der tote mantel dieser
nicht näher bestimmbare geruch
das hockende telefon das alles
in einem gewissen missverhältnis

die immer rätselhafteren
flecken an der wand der
verschwollene sessel die schwarze
kaffeekanne die umgekippten bücher die
vertrocknete goethepflanze

das alles war zu erwarten das
leichte fieber der lampe der
leer gestikulierende spiegel daneben
der lange kalender die fortschritte für
freitag die vaterschaftsklage

& weitere einzelheiten überall
ungenutzte elektrostecker die
dummen geräusche von unten die
türen in ihren geölten angeln
haben eine antwort auf alles

(aus „die rationen des ja und des nein“ von rainer schedlinski, aufbau 1988)

DAS LYRISCHE ICH
(Photo: Andres Rueda)

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Sonntag, 24. Juni 2012

Ich denke über Rainer Schedlinski und Sascha Anderson nach.
Schon am Nachmittag, in der Domäne Dahlem, auf einer grünen, blumendurchwehten Wiese, dachte ich über die Spitzel nach. Ich lag dort im schwarzen Jackett in der trüben Sonne, die durch ein halbdruchlässiges Wolkenlaken durchglimmte, das Wetter war schwül, mein Gehirn schwer angeschlagen von der noch immer in meinem Körper herum geisternden Erkältung, meine Frau lag neben mir und sprach von der Zukunft, während sie ein Holzmesser aus einem Rindenstück schnitzte, das für unseren Sohn bestimmt war, der hinter den Büschen, der grünen Wand aus Buschwerk, in Bäumen kletterte; dort also lag ich und dachte über den Prenzlauer Berg nach. Und war ratlos. Und denke weiter darüber nach, und werde morgen Abend berichten, wenn ich von der Maßnahme zurück komme, die mir das Jobcenter eingebrockt hat, und zu der ich die nächsten fünf Tage erscheinen muss, acht Stunden täglich, und in der man mir voraussichtlich beibringen wird, wie ich mich richtig und anständig und standesgemäß für ein Bewerbungsgespräch kleide, und wie ich mit MS-Dos umgehen muss, wenn ich einen hübschen, geradezu eilfertigen Bewerbungsbrief schreiben will. Auch darüber werde ich morgen berichten.

MIELKES DICHTERPULT
(Photo: Volker Plass)

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Freitag, 22. Juni 2012

Sommeranfang – selten in so grauen Tagen fest gehangen und dem Herbst entgegen gefiebert. Jetzt für 399 D-Mark nach Mallorca fliegen. Nach Port de Soller. Das wäre schön, das würde mir diesen hässlichen Sommer versüßen, diesen Sommer der schlechten Nachrichten, diesen Sommer ohne Treibstoff.

Vielleicht aber wäre ich ja auch fett geworden und würde einen Stone-Washed-Anzug tragen (hellgrün) mit dicken Schulterpolstern. Denn die Mode hat sich wenig verändert seit 1985. Keinerlei neue Impulse hier im Westen, in den letzten 27 Jahren. Die Frauen tragen noch immer Wildlederstiefeletten und asymetrisch geschnittene Jacken mit Applikationen.
Aber es ist nicht alles schlecht im Jahr des Herrn 2012, man kann mittlerweile sogar die Laptops bezahlen. Mein neuestes von Sinclair hat nur 2399 DM gekostet (ich hab es mit den Resten der ersparten Berlin-Zulage gekauft), und es hat ein integriertes Modem. Das wollte ich schon lange haben, denn seit vorletztem Jahr gibt es Internet auch für Privatpersonen. Die Telekom legt ja schon seit 2010 Anschlüsse für schlappe 199 DM. Und die Minute Internet kostet gerade mal 39 Pfennig. Demnächst werde ich dann wohl meine erste E-mail schreiben, an meinen Freund Mark, der im Rechenzentrum der FU arbeitet (in der Fakultät für Konfliktforschung).
Die Welt hängt derweil durchgehend am Abgrund, nachdem dieser unangenehme Stellvertreter-Krieg zwischen Pakistan und Indien stattgefunden hat, sie verharrt, diese Welt, seit zwei Jahrzehnten, und niemand regt sich, alle leben so vor sich hin und belauern die Gegenseite.
Falls sie sich nicht mehr erinnern können, oder noch zu jung sind, den großen Indischen Krieg erlebt zu haben, hier ein paar Eckdaten:
Nachdem der sowjetische Staats- und Parteichef Andropow gestorben war, wurde Andrej Gromyko neuer Generalsekretär – er hatte sich gegen einen noch unbekannten Herausforderer, einen gewissen Gorbatschow, durchgesetzt – und mit seiner Ernennung wurde der Kalte Krieg so eiskalt, das der vorherige Kalte Krieg im Rückblick geradezu frühlingshafte wirkte. Die UDSSR intensivierte ihren Krieg in Afghanistan, und die USA intensivierte ihre Unterstützung der Taliban. Die Russen zogen sich vorläufig 1988 aus dem verwüsteten Land zurück, und die Taliban marschierten wenig später in Pakistan ein und übernahmen auch dort die Macht. 1990 vereinigten sich beide Länder unter dem Druck der Gotteskrieger, und der neue Staat bekam den Namen Mogulistan und lieferte sich umgehend blutige Grenzscharmützel mit Indien, das mittlerweile von den Sowjets hochgerüstet wurde, unter den Argusaugen Chinas.
Wer genau im April 1991 die schmutzige Bombe im Zentrum Bombays zündete, wird wohl niemals geklärt werden können, aber in Folge kam es zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen den beiden Ländern. Insgesamt acht mogulistanische und zwölf indische Mittelstreckenraketen verheerten die Region. Mehr als 25 Millionen Todesopfer waren zu beklagen und unzählige Verwundete.
Nach diesem, nur zwei Tage andauernden, Krieg besetzten die Sowjets erneut den afghanischen Teil Mogulistans und US-Truppen das ehemalige Pakistan. Kaschmir wurde unter UN-Verwaltung gestellt und fungierte als Puffer.
Seither stehen sich die zwei Blöcke nicht nur in Europa, sondern auch auf dem indischen Subkontinent gegenüber.
Die fortwährende Hochrüstung der letzten Jahrzehnte hat zudem alle Wirtschaftskraft der Kontrahenten aufgefressen, sodass es 1994 zu einer massiven Weltwirtschaftkrise kam.
Natürlich geht es uns noch gut hier im Westen, auch wenn seit über zehn Jahren das Benzin rationiert und jeden Sonntag autofrei ist. Es gibt noch immer genug Waren in den Supermärkten; vielleicht ist das Angebot von Luxusartikeln etwas eingeschränkt – aber Tilsiter schmeckt ja ebenfalls, es muss nicht immer französischer Käse sein.
Was mich persönlich am Meisten stört, ist die Abwicklung der zwei privaten Fernsehsender (RTL und SAT 1). Auf den öffentlich-rechtlichen laufen Tag aus, Tag ein die immer gleichen Wiederholungen (Hollywood ist von der Wirtschaftskrise schwer mitgenommen worden), und die Nachrichten vermelden jeden Abend die gleichen Erfolgsmeldungen vom Krieg in Ozeanien.

Vorhin gerade habe ich eine Ansprache des Bundespräsidenten Grass im ZDF gehört – eine Sondersendung, die vor dem Informationsmagazin der Bundeswehr ausgestrahlt wurde – und Grass sprach davon, dass wir den Gürtel noch enger schnallen müssen, weil die neuerlichen Unruhen im Nahen Osten auch Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben könnten.
Seitdem der US-amerikanische Präsident Schwarzenegger – den ich, am Rande erwähnt, noch in seinem letzten Film „Conan“ gesehen habe, und der unlängst seine dritte Amtszeit angetreten hat – seit also Schwarzenegger ein striktes Embargo über Saudi-Arabien verhängte (die islamistische Regierung dort war mehrfach in die israelischen Grenzgebiete einmarschiert, aber von den Truppen Israels immer wieder zurück geschlagen worden), ist der Ölhahn noch weiter zugedreht, und hier in Berlin munkelt man, dass es bald auch einen autofreien Samstag geben soll.
Bundeskanzler Scharping hat zwar keine Mobilmachung ausgerufen, aber den kasernierten Einheiten der Bundeswehr ist jeglicher Ausgang oder gar Urlaub gestrichen worden. Wir werden wohl bald gen Ozeanien marschieren.

Habe ich schon erwähnt, dass sich seit 2004 der Fernseher nicht mehr ausschalten, nur leiser stellen lässt. Und dieser Fernseher, ein Volksprodukt von Siemens, muss in jedem deutschen Haushalt fest in der Wohnzimmerwand installiert sein.
Ah, jetzt gerade senden sie das neue Lied von Dieter Bohlen: „Die Wacht am Hindukusch“.
Eine so schöne Melodie . . .

Bundespräsident Grass mit Generalsekretär Anderson

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Mittwoch, 20. Juni 2012

WERBUNG

Ich möchte alle Leser und Leserinnen dieses Blogs noch mal auf meinen aktuellen Gedichtband aufmerksam machen.




Der Blog ist kostenlos, das Buch kostet auch nicht viel.

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Dienstag, 19. Juni 2012

Wie wäre er denn gewesen, der Westen, im Jahr des Herrn 2012? Wenn die Mauer nicht gefallen wäre.
Eilmeldung Reuters, vom 27. Oktober 1989: nach der Chinesischen Lösung in Leipzig und Berlin, sind gestern die letzten Widerstände der DDR-Opposition zusammen gebrochen. Es kam zu Massenverhaftungen. Viele Bürgerechtler wurden in zuvor angelegten Lagern eingeliefert. Unsere Korrespondenten sind ohne Nachricht dieser Entrechteten, und auch die genauen Todeszahlen des Massakers auf dem Alexanderplatz entziehen sich weitgehend unserer Erkenntnis. Aus Oppositionellenkreisen wird aber von mehreren Hundert Ermordeten berichtet. Seit Montagabend herrscht Friedhofsruhe über dem stalinistischen Teil Deutschlands.

Die DDR ist also nicht zusammen gebrochen und hat sich in den darauf folgenden Jahrzehnten, ebenso wie die anderen Ostblockländer, abgeschottet. Nur in Rumänien gab es 1994 einen Volksaufstand, der aber von Sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde. In der Zone heißt seit 1997 der Generalsekretär des ZK Egon Krenz (nach einem innerparteilichen Putsch gegen Honecker, bei dem seine Frau Margot auf ungeklärte Weise ums Leben kam). In der BRD regiert der agile Wolfgang Schäuble seit 1998 mit der Mehrheit einer schwarz-grünen Koalition (Joseph Fischer wurde als Außenminister als einziger aus dem rot-grünen Kabinett unter Lafontaine übernommen, und ist nunmehr seit rund zwanzig Jahren der ewige Vizekanzler). Bundespräsident ist Rezzo Schlauch. Er wurde von der CDU/CSU mitgewählt, die so ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Grünen verdeutlichen wollte. (Die FDP unter Gösta Ostermann scheiterte bei den letzten Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde, die Freien Wähler unter Eike Siebenhaar zogen hingegen zum ersten mal mit knapp neun Prozentpunkten ins Parlament im Bonner Wasserwerk ein)

Eine Misere also, die westdeutsche Politik, insbesondere weil Altkanzler Kohl alle Tage seinen Senf dazu gibt, ebenso wie Altkanzler Schmidt, der ihm alle Tage widerspricht.
Aber es gibt ja auch den Lifestyle des Westens, der bügelt einiges aus. Zum Beispiel die hoch subventionierte Literaturszene in Westberlin, die fast allen Dichtern und Bohemiens ein Einkommen sichert. Unlängst wurde sogar eine eigene Literatursparte mit festangestellten Schriftstellern im Schillertheater eröffnet. Oberbürgermeister Frank Steffelt sprach aus diesem Anlass von "einem großen kulturellen Schritt der freien Welt". Auch der Ehrenvorsitzende der Berliner CDU, Eberhard Diepgen, konnte sich nicht verkneifen, auf die prekäre Lage der Schriftsteller in der sogenannten DDR hinzuweisen. Nach seinem Grußwort wurde ein Kassiber des Dichters Tom Schulz verlesen, der eine mehrjährige Haftstrafe im Gefängnis Bautzen absitzt, nachdem er seinen berühmt-berüchtigten Gedichtband im westdeutschen Hanser-Verlag veröffentlicht hatte. Sein Buch "Gehn´se weiter, Herr Gefreiter" hatte die eisgraue Nomenklatura der DDR so erzürnt, dass es zu einem, von der "Aktuellen Kamera" übertragenen, Schauprozess kam, in dem Schulz zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Im Westen hingegen ist das Leben schön. Besonders in Westberlin. Man darf überall rauchen (kiffen auch, der Besitz und Konsum steht seit 1996 nicht mehr unter Strafe), die Wohnungen sind billig - ich wohne mit meiner Familie in SO 36, Blick über die Mauer ins braunkohlegefärbte Treptow, 6-Zimmer-Küche-Außenklo, Ofenheizung, 480 Euro warm. Ach, nein, 670 DM natürlich, denn den Euro gibt es ja nicht (beziehungsweise den ECU), das sind ja alles nur Planspiele des damaligen Bundeskanzlers Kohl geblieben, kurz bevor er 1994 abgewählt wurde.
Mit meinem Job beim SFB (Redakteur für Hörspiel und Radiokunst) und der obligaten Berlin-Zulage, lässt sich diese Miete leicht tragen, und für winterliche Ferien in Griechenland reicht es allemal (der Kurs der Drachme steht günstig zur Zeit). Ausserdem habe ich letztes Jahr zum dritten Mal das große Berlinstipendium bekommen, zusammen mit 59 anderen Dichtern. Die 40.000 DM sind noch nicht ganz aufgebraucht.
(... tbc ...)

Der Ostberliner Dichter Tom Schulz,
kurz vor seiner Verhaftung

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Montag, 18. Juni 2012

Ich lag auf dem Sofa und dachte nach, schaute auf die Sonnenreflexe, die von den Fenstern des Hauses vis a vis auf das Bleiglas der Flügeltür geworfen wurden. Gewitterlicht. Kurz zuvor war ein kleines Unwetter über uns hinweg gezogen. Jetzt glitzerte das gespiegelte Licht hell und kalt auf den alten, matten Scheiben.
Ich dachte zurück an die elterliche Wohnung meiner Jugend, in Karlsruhe, Gartenstraße 33, in der es auch eine Flügeltür gab, ich kann mich nur nicht mehr erinnern, ob Bleiglas in ihr gefasst war. Ich glaube schon. Aber welche Farbe hatte es, welche Form?

Meine Gedanken wanderten, wie man so sagt, und ich stellte mir vor, wie es wohl sei, einmal wieder an der Tür unserer alten Wohnung zu klingeln und die neuen Bewohner um eine Besichtigung zu bitten. Ich würde ihnen ein, zwei Photographien aus der frühen 80ern mitbringen, um ihnen zu zeigen, wie es dort ausgehen hatte. Ich würde dann staunend durch die völlig fremde Wohnung gehen, vorbei an der nun weiß oder beige gestrichenen Küche, in der auch nicht mehr der alte Junkers-Durchlauferhitzer hängen würde.

Mir kam dieses eine Photo in den Sinn, auf dem man unsere Küche sehen kann: helle Holzstühle und dunkelbraun getünchte Wände. Bauernmalerei auf dem eingelassenen Wandschrank, der zum Hof hin ein kleines Gitterfenster hatte, mehr eine winzige Speisekammer war, in der man sogar zwischen den zwei rechtwinklig aufeinander stoßenden Regalen stehen konnte, wenn man nicht allzu dick war.

Und auf diesem Bild, an dem weiß emallierten Gasherd, steht mein Vater, so alt wie ich jetzt, und brät mit großer Geste Bratkartoffeln. Keiner briet sie so wie er, mit Salamistücken, Silberzwiebeln und Oregano.
Er kochte nicht oft, aber wenn, war das ein Ereignis, allein deshalb, weil die Küche danach wie ein Schlachtfeld aussah, und da mir der Abwasch als Haushaltsarbeit oblag, seit ich zehn oder elf geworden war, musste ich die Sauerei wieder weg putzen. Ober diese Bratkartoffeln lohnten es.

So zu liegen auf der Couch, die Gedanken schweifen zu lassen (was eine abgegriffene aber passende Metapher ist), das sollte man nicht nur beim Psychoanalytiker tun. Das ist ein angenehmes Gefühl, das ich mir viel zu selten gestatte, zu dem ich auch meist zu nervös bin. Hingegen in meiner Jugend konnte ich ganze Nachmittage auf dem Sofa oder der Matratze verbringen, ohne das mir die Zeit lang wurde. (Heute würde ich in spätestens einer halben Stunde eingeschlafen sein).

Morgen muss ich Bratkartoffeln machen. Für meinen Sohn.


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Sonntag, 17. Juni 2012

Auf Wolken, ich lief auf Wolken. Und in mir floss der Sonnenschein durch alle meine dünnen Adern.
Ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden, als ich zum ersten Mal Haschisch rauchte, in einem Treppenhaus, zusammen mit Joe und noch einem anderen Freund. Wir waren auf dem Weg zu einem Rollenspielabend, und wir waren sehr junge Kiffer.
Das war eine Zwischenzeit. Die Playmobilsammlung war verkauft (das Geld in einen Grundig-Radiorecorder angelegt, der noch heute neben meinem Bett steht, und mit dem ich zur Nacht ab und an Kulturradio oder den Deutschlandfunk höre), auch die Star-Wars-Figuren standen eingemottet im Schrank, aber ich spielte noch leidenschaftlich gerne Fantasy-Rollenspiele, vor allem das erste deutsche Spielsystem "Midgard" - lange Jahre lief ich in Gestalt eines Barden durch finstere Verliese, umringt von Ghouls und Drachen, auf der Suche nach Gold und Zaubertränken. Der Barde hieß Atrun, soweit ich mich entsinnen kann.
Die Ex-Wunderkinder um Joe (und mich) trafen sich auf dem Speicher seines großelterlichen Hauses, denn dort hatten wir Raum und Ruhe. Joe hatte aus Sperrmüll einen Hochsitz gebaut, der sicherlich fünf oder sechs Quadratmeter maß, und auf dem wir lagerten, hingestreckt auf alte, staubige Matratzen, überdacht von vergilbten Laken und Stoffen.
Dort spielten wir Haschen im virtuellen Mittelalter des "Schwarzen Auges" oder in der Vorzeit des "Dungeon and Dragons". Und kifften dabei. Und hörten Ougenweide.
Ougenweide hatte ich mitgebracht. In der Jugendbibliothek im Prinz-Max-Palais hatte ich sie entdeckt, dort gab es ein Regal mit Musikkassetten, die man nach Hause ausleihen konnte, im Gegensatz zu den Schallplatten, die nur vor Ort gehört werden durften, damit sie pfleglich behandelt wurden. Die ersten drei Kassetten, die ich auslieh, waren The Velvet Underground (der Bandname gefiel mir), Black Uhuru (mein großer Bruder hörte Punk und Reggae zu der Zeit) und eben das "Liederbuch" von Ougenweide, auch da weckte der Name meine Neugier.
Auf dieser Platte hörte ich zum ersten Mal ein Gedicht von Walter von der Vogelweide, durch diese Gruppe begriff ich zum ersten Mal, dass es auch Musik jenseits von Pop, Rock und Jazz gab. Was für eine Offenbarung: das Mittelalter schien sich ganz anders anzuhören (jedenfalls hielt ich mit dreizehn das, was ich dort hörte, für Musik des Mittelalters). Was ich damals noch nicht wusste war: auch die Musik auf dieser einen anderen Kassette, das Viola-Dröhnen der Velvet Underground ging zurück auf die Estampies der Trouveres. Erst mit Anfang zwanzig wurde mir die Traditionslinie klar - Conon de Béthune (und andere Trouveres des 13ten Jahrhunderts), Erik Satie, John Cage, La Monte Young, John Cale, The Velvet Underground!

Später, als ich mir auch das Kiffen abgewöhnt hatte, hörte ich die Orginale, die Ensembles, die die Musik des Mittelalters historisch informiert spielten. "Studio der frühen Musik", "Sequentia", "Hesperion XX" und viele andere. Aber noch immer höre ich ab und an gerne die Musik von Ougenweide. Und eines der liebsten Stücke war mir immer: "Ouwe" (das mit dem Vogelweide-Text).



(Und nachgedichtet habe ich das Gedicht später dann ja auch noch):

"Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!"
O Weh, wohin sind verschwunden all meine Jahr
träumte mir mein Leben, oder ist es wahr
Was ich wähnte, dass es wäre, ist es Wirklichkeit
habe ich geschlafen, verschlafen all die Zeit
Nun bin ich wach, es ist mir gänzlich unbekannt
was mir vertraut war, so wie die eigne Hand
Meiner Kindheit Land: dort ward ich aufgezogen
all das ist mir nun fremd, als wäre es erlogen
die Kinder die ich kannte, sind träge jetzt und alt
Verödet ist das Feld, zerhauen ist der Wald
Wenn nicht das Wasser flösse, wie es schon damals floß
dann wäre ich mir sicher, mein Unglück wäre groß
Der mich einst bestens kannte, grüßt lässig nun und träge
mit Mißgunst sind gepflastert alle meine Wege
So denke ich an manchen freudenvollen Tag
entfallen ist er mir, ins Wasser geht der Schlag
O Weh jetzt immer mehr

O Weh, wie jämmerlich die jungen Leute sind
vormals war´n sie so frohgemut, wie heute nur ein Kind
jetzt kennen sie nur Sorgen, ich frage mich wieso
wohin ich nun auch schaue, es scheint mir keiner froh
Das Tanzen und das Singen vergehn in Sorgen gar
nie hat ein Christ gesehen so jämmerliche Jahr
Schaut hin, wie all den Frauen ihr Haarkranz steht
und jeder stolze Ritter in Bauernlumpen geht
Unsanfte Briefe, die man aus Rom uns sendet
sind nur zum Trauern gut und gegen Freud gewendet
das schmerzt mich inniglich (wir lebten einst recht wohl)
dass ich nun für mein Lachen das Weinen tauschen soll
Die Vögel in der Wildnis stehn stumm vor unsrer Klage
Wen wunderts, dass ich an den Freuden schier verzage
was sprech ich dumpfer Mann in meinem bösen Zorn
wer diesem Leben folgt, hat´s andere schon verloren
O Weh jetzt immer mehr

O Weh, wie Süße hier vergiftet unser Leben
im Honig sehe ich die bittre Galle schweben
Die Welt ist außen schön: weiß, grün und rot
und innen ist sie schwarz, so finstern wie der Tod
Wen sie verführte, der sehe seine Tröstung
geringe Büße schon bringt gänzliche Erlösung
Bedenkt es, Ritter, das ist euer Ding
ihr tragt den goldnen Helm und manchen Rüstungsring
dazu das feste Schild und das geweihte Schwert
Hilf Gott, dass ich auch sei des großen Segens wert
So will ich armer Mann verdienen reichen Sold
doch mein ich nicht der Höfe und nicht der Herren Gold
Der Seligkeiten Krone will ich nun ewig tragen
die konnt ein Legionär einst mit dem Speer erjagen
Könnt ich die Kreuzfahrt machen übers Meer
so würde ich dann singen: nimmer mehr
dann nimmer mehr o Weh


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Samstag, 16. Juni 2012

Immer noch krank. Immer noch Regen. Vielleicht hilft ja Conon de Béthune - der Barbar des Minnesangs.
Wie weit dieses goldene Mittelalter der 1970er Jahre entfernt ist, da ich solche Musik zum ersten Mal entdeckte, gefiltert durch die Folkmusik der Gruppe Ougenweide, die ich im elterlichen Radio hörte, oder in der Hippie-Kommune, die Parterre in unserem Haus wohnte. Man wusste nie so genau, wieviele bärtige Männer und flachsblonde Frauen zu dieser Wohngemeinschaft gehörten, immer hingen neue Gestalten auf den Korbstühlen in der Küche rum und tranken Tschai mit Kandiswürfeln.
Dort hörte ich Musik, die ich später wiederfand. Sandy Denny, Nick Drake und eben die mittelalterlich gefütterte Folkmusik von Ougenweide. Zeitgleich wurden in den Studios von Teldec oder der Deutschen Grammophon die Orginale eingespielt. Das beruhigende Dröhnen des hohen Mittelalters, goldene Zeit der europäischen Kultur. Ich saß auf einem Steine und deckte Bein mit Beine. (So traurig dieser Abend). Aber nein, es ist zwar fast schon dunkel, tief trübe ist das Wetter draußen zwischen grauem Himmel und grauen Häusern, doch ist es nicht ganz drei Uhr. Die Stille dickt im Zimmer ein, nur in der Wohnung über mir trappeln Füße ohne Körper.
Merkwürdig diese 70er Jahre, mit all den Gammlern in Schafsfellmänteln, in der Fußgängerzone von Lüneburg, die ihre langen Bärte in den Sonnenwind hielten und Schmuck verkauften in kleinen Bauchläden. Dieser Müßiggang auch in der Musik. Das Treiben, das nicht Wollen, das Finden.
Und selbst die Sozialdemokraten in den Ämtern fanden das gut, wollten es den Hippies nicht austreiben, jedenfalls nicht mir massiven Maßnahmen.
All die Ritter und Knappen sind jetzt in den Verliesen der Jobcenter fest gesetzt, und ihre Kinder, nein, ihre Enkel reiten für McKinsey.
Kaum zu glauben, dass Ensemlbes wie das "Studio der frühen Musik" bis in den Massenmarkt hinein verkauften, und nicht nur auf Mittelaltermärkten (die es noch gar nicht gab) oder im Foyer der Konzertfestsäle. Hippies auch sie, langhaarige Intellektuelle, die die Geheimnisse der Troubadoure ans Licht fidelten.
Stattdessen - in 2012 - Ausrichtung zum Nützlichsein. Bärte nur noch gestutzt, oder besser gar keine bei den Unternehmensberatern. Keine Geheimnisse mehr, nur klare Ziele, die sich leer hinter der Zielgerade erstrecken. Nur ab und an spielt noch wer die Liebeslieder des Conon de Béthune auf youtube.




Ougenweide

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Dienstag, 12. Juni 2012

Nachdem ich gestern Morgen die letzten Korrekturen am Manuskript der Georg-Heym-Anthologie angebracht hatte, schickte ich die Datei umgehend an den Verlag und wurde danach - wen wundert es - ohne Verzögerung krank. Und nun liege ich hier, mit einer kopfschweren Erkältung und kann mich auf kein Buch mehr konzentrieren, selbst der Spiegel oder die Morgenpost sind mir anstrengende Lektüre geworden. Ich hasse diese ewigen Erkältungen, die mich seit meiner Kindheit so eifrig verfolgen, und sicherlich vier- fünfmal im Jahr einholen.

Was ich allerdings mag: in viele Kissen gebettet sein, hingestreckt liegen mit geschlossenen Augen und halbgeschlossenen Rollläden, so dass nur noch wenig Licht über die herab gesenkten Lider huscht. Die zweiflügelige Balkontür steht geöffnet (um den Krankheitsgeruch zu vertreiben, den ich zwar, ob meiner geschwollenen Schleimhäute, nicht mehr riechen kann, den ich aber anderen nicht zumuten sollte)
. . . (Jetzt liege ich hier, mit Blick auf einen Bildband mit Römischer Kunst, auf den ich ein gefaltetes Papier gelegt habe, über das mein schwarzer Tintenstift kratzt, wie am Morgen Goethes Federkiel in dem gleichnamigen Film, der mir in halbem Fieber gut gefallen hat) . . . und ich lege mich wieder zurück, erinnere gleichzeitig, empfinde gleichzeitig. Sturm und Drang, Fieber und Wahn.
Es ist sehr angenehm, so im Halbschatten zu liegen und der Welt zu zuhören, dem Singen der Amseln, dem Zwitschern der Spatzen, dem Rauschen der entfernten Wagen am Grazer Damm, dem vorüber hallenden, nahen Dröhnen in der Straße, zu der sich hin die Balkontür öffnet.
Ab und an Satzfetzen einzelner Passanten-Paare, die mir unverständlich bleiben. Der Hall der Welt im Allgemeinen. (Und jetzt, wo ich dies am Schreibttisch abtippe, beginnt auch das Geläut der Kirche am Grazer Platz und macht mir diesen Nachmittag wieder zum Sonntag - dabei ist es nur das tägliche Abendläuten. Hat das eigentlich einen Namen, so wie das Angelusläuten zur Mittagszeit?)
Nunja, Hufgetrappel und Kutschenräderklappern wären mir lieber, durchmischt von Walzern Schuberts.

Dann fährt der Bus vorbei, wie alle zehn Minuten.
Und ich schaue auf die Bleistiftzeichnung die gegenüber meines Bettes hängt, eine Parklandschaft, gezeichnet 1865 von einem völlig unbekannten, heute namenslosen Künstler - in der linken unteren Ecke steht "Adolf Schmalzer" oder "Adolf Schwarzer". Das Blatt ist geknickt, die Ränder ausgefranst, aber ich liebe diese Arbeit, das Schlichte, unpompöse; ich hätte gerne noch andere Arbeiten des Zeichners. Aber mir ist ja der Name nicht geläufig, und dem Internet auch nicht.
Verblasst all sein Ruhm, wenn er denn jemals welchen hatte. (Aber ich gehe davon aus, denn die Zeichnung ist keine Laienarbeit, vielmehr ziemlich modern für das Jahr 1865). Ein letztes Blatt von tausend Stück.

Adolf Schmalzer (?), Parklandschaft, 1865

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Sonntag, 10. Juni 2012

Ein Sonntag: die Kutscher trinken ihr Bier mit Orangenlikör im Schatten der Kirche. Ihre Augäpfel ganz weiß, ihre Haare dunkle Wälder aus schweren Gedanken.
Nein, so ist es nicht, keine Kutscher mehr in den Straßen von Friedenau, nur eine Ahnung, die aus den Gaslaternen strömt – die auch schon seit Jahrzehnten abmontiert sind, hier im Kiez.

Ich sitze im Garten mit einem Manuskript auf den Knien – die Anthologie zum 100sten Todesjahr von Georg Heym, die morgen früh in den Satz geht – und die Kirchenglocken läuten um die Mittagszeit vom Grazer Platz her.
Es gibt kaum etwas, was mich so sehr beruhigt, wie Kirchenglocken am Sonntag, kein Kirmesschlager könnte mir diese Gelassenheit einsingen. Die Hummeln summen, die Sonne bricht ab und an durch die schweren Wolken, die heute ganz leicht aussehen, auch wenn ihre dunklen Ränder dräuen (Heym hat mir ein bisschen die Sprache infiziert an diesem Tage). Stunden sitz ich über dem Manuskript und korrigiere die Texte, und jede Stunde schlägt die Glocke.
Schade nur, dass sie nicht mehr die Viertelstunden anzeigt. Ich kann mich erinnern, dass sie das tat, als ich durch Lüneburg streunte, in den 70er Jahren. Verschattete Männer mit schmalkrempigen Hüten in der Fußgängerzone hinter dem elterlichen Haus, Damen mit matten Wildledermänteln, unter deren Säume die Miniröcke hervor blitzten, Motorradrocker auf Kreidler-Mopeds. Und Kinderbanden, die dazwischen durch flitzten. Ich mittendrin vor der Eisdiele Fontanella (ob die Babys dieser Familie halbgeöffnete Schädel hatten?), in der es Spaghettieis gab, das unfassbare fünf Mark den Becher kostete, und das ich nur ein einziges Mal aß, eingeladen von der Referendarin meiner Grundschule (oder war es eine andere junge Frau mit blumenbestickter Bluse?). Aber die Kugel ordinären Eises war billig; 30 Pfennige für eine Portion Haselnuss, Blaubeere, Malaga oder Straciatella.
Und die Kirchenglocken vom Sande schlugen nicht nur jede Stunde tief wie ein Herbstschatten, sondern auch hell jede viertel Stunde.
Am Sonntag morgen lag ich zwischen meinem Eltern im Bett und sog den Geruch der Laken ein (vermutlich eine Mischung aus „Omo“ und Erinnerung), versank in den Kissen, schmiegte mich an meine Mutter und hörte durch das gekippte Fenster das Glockengeläut, dass über den moosüberwachsenen Hinterhof, über die alten, schrundigen Dächer, durch die schmalen Gassen und Straßen schallte. Von Sankt Johanni her, der gotischen Kirche am mittelalterlichen Platz, der schon immer „Am Sande“ gehießen hatte.
(Wann hat das aufgehört, dass die Viertelstunden geschlagen wurden?)
Und jetzt also im Garten mit Georg Heym, der alten Wasserleiche, den ich schon als Kind las, in einem winzigen Bändchen, das in dem Bücherregal meiner Mutter stand, neben einem winzigen Bändchen von Trakl. Und am Abend wurden mir Kindergedichte von Morgenstern vorgelesen; es konnte aus mir gar nichts anderes werden.

Nachdem ich das Manuskript Korrektur gelesen habe, schaue ich im Kühlschrank nach Abendessen, das leider nicht mehr vorhanden ist. Also schwinge ich mich auf mein Fahrrad (das ich im Winter für 27 Euro bei ebay ersteigerte) und fahre zum LIDL-Markt am Innsbrucker Platz. Es ist noch nicht ganz Abend geworden, aber ich muss trotzdem an Tom Schulz denken.
Dieser Lidl hat immer geöffnet, jeden Sonntag, jeden Abend. Und dieser Lidl ist Antiprovinz, ein Fest für den Sozialvoyeur. Es gibt nicht noch einmal einen so überfüllten Supermarkt in Berlin. (Vielleicht nur den im S-Bahnhof Friedrichstraße.)
Der Boden klebt, es wanken die Gestalten zwischen dem Wein und den Gurken. Alle Herkunftsländer der Berliner Bevölkerung scheinen dort Agenten zu haben, und der Wachmann am Eingang wechselt täglich. Die Kassiererinnen können nur mit Valium durchhalten, damit sie nicht austicken und den Kunden schwere Waren um den Kopf hauen.
Die Kassiererinnen dort sind immer gut drauf, wenn ich an der Kasse stehe (ich würde innerhalb von fünf Minuten ausrasten, wäre ich in ihrer Position), und sie lachen und machen kleine Scherze mit den Gästen der Unterwelt. Eine wirft den Kassenschlüssel zur anderen, die eine Storno hat; die fängt den Schlüssel mit unbewusster Eleganz. Und draußen hocken die Penner und bitten um ein Bier.
Was für ein Unterschied zu dem gesitteten Penny-Markt meiner Kindheit – dem ersten Discounter, den ich besuchte. Auch daran kann mich erinnern: Mein Vater nahm mich und meinen Bruder dorthin mit. Wir kauften Nussschinken und Karamellbonbons (vielleicht war das auch in einem anderen Laden). Und wir waren überwältigt von der Größe und Vielfalt des Ladens und der Auswahl. Wir kannten bis dato nur das Kaufhaus in der Fußgängerzone, wir hätten nicht gedacht, dass der Kapitalismus auch in aufgeschnittenen Kartons wohnen kann. Kartons voll von Tüten mit Karamellbonbonds.

Mein Vater aß so gerne, vermutlich sogar noch lieber, als dass er trank. Allerdings hat ihn nicht das Essen umgebracht. Das Essen war das Letzte, was er noch genoss, als seine verkrebste Leber schon in seinen Körper ausflockte (ich musste damals an die Hähnchen denken, die ich mit ihm zusammen aus der Tiefkühltruhe hervor gegraben hatte, und in deren kalten Leibern die Leber, das Herz und die Nieren versteckt waren, in ein kleines Plastiktütchen gedrückt).
Als mein Vater schon fast im Sterben lag, sich kaum noch von Bett zu Tisch und von Tisch zu Stuhl hangeln konnte, lud er meinen Bruder und mich zum Spargelessen ein. Es war sein letzter Frühling, und ich kam eine Stunde früher, um die Kartoffeln zu schälen (die alle grün und giftig aussahen). Er mühte sich redlich, den Spargel zu schälen und das Kochwasser für die Kartoffeln aufzusetzen, aber es gelang ihm nur noch unzureichend.
Am Esstisch später (der jetzt bei meinem Bruder steht) saß er ruhig mit unruhigen Augen, und seine Söhne und deren Frauen lobten den Spargel. Und alle tranken viel Wein, bis auf den Vater, dessen Leber schrumpfte.
Ich weiß nicht, ob die Kirchenglocken läuteten, ihren Schall durch die gekippten Fenster gossen wie schweren, hellen Wein. Und wenn sie es denn taten, die Viertelstunden zeigten sie schon lange nicht mehr an.

Am Sande, Lüneburg

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Freitag, 8. Juni 2012

Ich las gerade einen tiefgründigen, geradezu erhellenden Artikel über die Midlife crisis . . . im Spiegel!
Der Artikel war ausführlich, gut geschrieben, auch mit Zitaten aus der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur angereichert. Das war eine Art von Journalismus, die meinen Kopf zum Denken brachte. Hoppla, der Spiegel bringt mich zum denken, wie ist das möglich? Sogar ein Stahlstich von Gustave Doré zu Dantes Inferno war dem Artikel beigegeben, und am Rand stand eine Reklame für das neueste Princess-Coupé der Automarke Leyland . . . ach ja, ich hatte ein Spiegelheft vom 19. Juli 1976 in der Hand.
Wo ist das alles hin? Der gute Journalismus, der einen zum Nachdenken bringt? - Weg ist er; und erzählt mir nicht, dass dieser Eindruck meiner Midlife crisis geschuldet ist.
Ein paar Seiten weiter konnte ich in der Spiegel-Bestsellerliste lesen, dass Max Frischs "Montauk" auf Platz 5 stand. Montauk! Ein großes Werk der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, vermutlich Frischs bestes Buch! Auf Platz 5! Kein übler Trash auf Platz 5, sondern Weltliteratur. Unfassbar! - Wo ist das hin? Wieso steh ich am 7. Juni 2012 nicht auf Platz 5 der Spiegel-Bestsellerliste?
Und ganz hinten das Totenregister. Wer da alles so gestorben ist, Berühmtheiten! Kennt heute kein Mensch mehr. Staub. (We come with the dust, and we gone with the wind).

In diesem Heft fand ich auch eine erbsgrüne Anzeige für einen elektrischen Fondue-Topf von Siemens. Fondue war damals so eine Modeerscheinung. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter zweimal im Jahr in der Küche den ganzen Nachmittag lang Dips zusammen rührte, mit Knoblauch, mit Sahne, mit Sherry. Und am Abend saß die abgezählte Familie um den Fondue-Topf ("Pass auf, da ist heißes Öl drin"), und ich stippte die Schweine- und Kuhstückchen in das wie Hölle brodelnde Öl.
Dazu wurden gereicht: in Würfel geschnittenes Weißbrot und kleine Flaschen Lift ("Limonade mit der Löschkraft der Zitrone"). Ein Fest in den späten 70ern. Nie wieder werde ich so leckeres Fleisch essen. Nie wieder werde ich meine Eltern sehen. Das Rezept für die Sherry-Soße hat meine Mutter mit ins nasse, grüne Grab genommen. Der Fondue-Topf überdauerte ihren Tod, kam aber irgendwann abhanden. Vielleicht steht er noch auf dem zugigen Speicher des Landhauses meines Bruders, auf dem auch ihr Neo-Barocker Schminktisch in einer Ecke hockt. Fliederfarben lackiert.

(Und immer wieder die Botschaft: "Pfeifenraucher sind interessant und haben Erfolg").




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Mittwoch, 6. Juni 2012

(Den ganzen Tag an der Georg-Heym-Anthologie gesessen, die wirklich gut wird und sich vermutlich, leider, leider, wie andere Anthologien mit Gedichten - so sie nicht den Herbst oder das Meer thematisieren - mehr als schlecht verkaufen wird. Aber wir werden sehen).

Wenn man den Namen Nicolas Berggruen bei Google eingibt, findet man meinen Blog bereits auf Seite Drei. Unfassbar, dabei wird doch nicht gerade wenig über den Mann berichtet.
Seite Drei also; vielleicht liest er den Eintrag ja doch irgendwann einmal und schickt einen rettenden Boten, mit einem Scheck über 50.000 Golddukaten, unterschrieben von ihm, von Nicolas Berggruen (ich muss diesen Namen nur häufig genug schreiben, damit die Verbotene Zone noch weiter nach oben rutscht im Page-ranking; und eines Tages...)
Eines Tages dann, sitzt Nicolas Bergruen in seinem Privatjet, sein Notebook auf den Knien - ein speziell für ihn angefertigtes Notebook, mit E-Ink-Bildschirm und rot schimmernder Tastatur - und googelt wieder einmal seinen eigenen Namen: Nicolas Berggruen.
Er macht das bestimmt täglich, denn er wird doch wohl eitel genug sein, der hübsche Zen-Kapitalist.

In meinen Träumen bin ich schon bei ihm gewesen, in seiner Gulfstream IV, und er hat mich herzlich begrüßt, ein Glas mit Bionade gereicht (Hollunder mit in der Flüßigkeit schwebendem Goldstaub), und dann führte er mich durch sein Reich über den Wolken:

Gleich vorne, hinter dem Durchgang zum Cockpit und dem Aufenthaltsraum der Besatzung (weiteres Personal war nicht zu bemerken, Berggruen schien keinen großen Wert auf unnötigen Luxus zu legen), öffnete sich der Salon, in dem seidenbestickte Kissen sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Auf dem Tisch standen zwei riesige Wasserpfeifen, und von der Kabinendecke hingen sowohl samtne Tröddeln, als auch Sauerstoffmasken, in die jemand stark duftende Orchideen gesteckt hatte.
Mehrere große E-Book-Monitore hingen zwischen den Sichtluken, durch die orange getönt die Sonne herein schien, und dem Salon eine heitere Atmosphäre verlieh. Winzige, leicht bekleidete Elfen tanzten zwischen den Sonnenstrahlen, und Nicolas Berggruen verriet mir all ihre Namen.

Seine Schlafgemächer zeigte er mir leider nicht, das wäre wohl zu intim gewesen, aber hinter dem Wohnbereich war eine kleine Sternwarte in den Flugzeugrumpf integriert, ein schwenkbares 8-Zoll-Fernrohr, mit dem er, so erklärte er es mir, in den einsamen Nächten die Venus observierte, oder den Mars.

Im hinteren Teil gab es das Badezimmer, in dem ein Plexiglasboden eingelassen war, und in dem wiederum eine durchsichtige Wanne. Er lud mich ein, ein kurzes Bad zu nehmen, was ich auch tat, und zwischen meinen Beinen konnte ich die Wolkendecke sehen, die an einigen Stellen aufgerissen war und den Blick freigab auf eine winzige Welt aus grünen und braunen Flecken, ein Erd-Mandala.
Wenn die Menschen unten auf den Dächern (auf denen sie krumm und windzerzaust standen, wie die Sterndeuter), wenn sie also Teleskope gehabt hätten (so wie wir hier oben), wäre es ihnen möglich gewesen, meinen Arsch zu sehen, hinter dem Plexiglas der Wanne.

Nach dem erfrischenden Bad (das Wasser war mit Gänseblümchen-Öl aromatisiert gewesen), führte mich Nicolas Berggruen in das Heck der Maschine. Dort waren zwei würfelförmige, kaum drei kubikmeter große Kammern eingelassen, in denen er, so sagte es mir Nicolas Berggruen, meditieren würde, über die Welt und über den Kapitalismus (und manchmal auch über Gedichte und über die armen, verarmten Dichter). Die eine Box war vollständig mit Spiegeln ausgekleidet, so dass man sich selbst dort verfielfacht sah, die andere mit schwarzem Samt ausgeschlagen, so dass man sich dort verfielfacht wahrnahm. Nur das entfernte Heulen der Düsenmotoren störte ein wenig die Konzentration, aber Berggruen versicherte, das würde er wegmeditieren.

Natürlich erwachte ich, bevor ich mich verabschieden konnte, und rannte sofort zum Briefkasten hin, um nach der Depesche des rettenden Boten zu schauen. Aber da war nichts, nur Rechnungen und eine Aufforderung vom Jobcenter, mich zur Verfügung zu stellen. Enttäuschend. Wirklich enttäuschend, Herr Nicolas Berggruen.




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Dienstag, 5. Juni 2012

(Hier also die Photos von der Lesung im Centrum Judaicum am 3. Juni 2012).

Linus Westheuser, Tea Kolbe, Ilja Winther

Max Czollek, Tea Kolbe

Sandra Anusiewicz-Baer

Johannes Frank, Max Czollek

Asmus Trautsch, Felix Scheinberger, Johannes Frank, Max Czollek

Felix Scheinberger zeichnet

Johannes Frank, Anouk Frank, Max Czollek

Johannes Frank, Anouk Frank, Max Czollek

Felix Scheinberger, Johannes Frank, Anouk Frank, Max Czollek

Johannes Frank, Anouk Frank, Max Czollek

Jan Papenfuß

Björn Kuhligk

Björn Kuhligk, Max Czollek

Max Czollek

Johannes Frank

Florian Voß

Asmus Trautsch


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Montag, 4. Juni 2012

(Früher Abend, graues Licht; nach einem langen Tag, blubbert jetzt in meinen Kopfhörern die wirklich spacige Platte "Song of the second moon", die von den Holländern Thomas Dissevelt und Kid Balton 1958 aufgenommen wurde. Völlig abgefahrene, elektronische Musik, ihrer Zeit um mindestens zwanzig Jahre voraus. Kaum zu glauben - und jederzeit auf You tube zu hören).

Gestern war ich auf der Lesung von Max und Johannes im Centrum Judaicum (in einem ziemlich nichtssagenden Gemeindesaal der Neuen Synagoge, der zudem noch auffallend schlecht ausgeleuchtet war, was meinen Photos nicht zugute kam).
Moderiert wurde der Abend von Asmus, und Felix Scheinberger zeichnete - unmittelbar von einem Beamer projeziert - Stadtansichten von Jerusalem und anderes.
Draußen fortwährender Regen, wie schon auf dem Hinweg, und auch später auf dem Weg in die Z-Bar - das Wetter bringt mich zur Verzweiflung, diese Klimaerwärmung, bei der man gezwungen ist, Anfang Juni Winterjacken anzuziehen.
Die Texte von Max und Johannes wie immer beeindruckend, und auch die neuen Gedichte von Asmus, der zum Schluss noch drei oder vier las, gefielen mir ausgesprochen gut.

In der Z-Bar dann, unter der blauen Leuchtreklame, Gespräch über Ost-West-Konflikte der jungen Generation. Tea, Max, Björn und ich sehr unterschiedlicher Meinung, die zwei jungen aus dem Osten (bei Tea war es mir ob des "übelst" klar, dass sie im Osten geboren sein musste, bei Max hat es mich überrascht) bestanden auf gebrochenen Biographien, den älteren Siegern (Björn und mir) fiel das nicht mehr so auf, dafür sind wir zu saturiert im ewigen Westen.

Wobei: der Westen ist ja auch 1989 untergegangen. Die BRD existiert heute genauso wenig wie die DDR. Westzone, Ostzone: Geschichte.
Wie allein der Stolz auf Bildung und Kultur durch den Sieg des Kapitalismus aufgerollt worden ist. Ich erinnere mich an die Zeiten des goldenen Westens (wenn auch der Osten bei Sonnenaufgang leuchtete), in der die Verlagslandschaft noch ein Märchenland war. Heyne brachte eine Lyrikreihe raus, deren einzelne Bände meistens eine Startauflage von 5000 Stück hatten (so hoch geht heutzutage nicht einmal Suhrkamp oder Hanser). Goldmann publizierte Klassiker (zum Bespiel eine nahezu umfassende Sammlung von Faust-Texten). Im Fernsehn kam Fernsehprogramm mit echten Filmen; wenn ich durch die TV-Seiten alter Spiegel-Hefte blättere, denke ich immer: das will ich sehen, das, und das da auch. Ach, und das noch.

Alles vernichtet nach der Wende (nicht nur DT 64 ist abgewickelt worden, nein, auch Radio 100). Nur noch große Trichter werden produziert, in die der Stumpfsinn und das Nichts des ganzen Weltalls eingegossen werden.

Sogar die gelbe Reclam-Universalbibliothek ist langweilig geworden. - Auf der Rückfahrt las ich in der S-Bahn in einer kleinen Reclam-Chronik. Da stand auch ein winziger Text von Thomas Mann drin. Ich hätte es vermeiden sollen, ihn zu lesen, mir ist natürlich wie immer speiübel geworden. Thomas Mann hat einen derart schlechten Stil, dass es mir unfassbar erscheint, wie er so bekannt werden, und vor allem bleiben konnte.
Thomas Mann ließ die Serviette vom Abendmahl selbst beim Schreiben im steifen Kragen hängen.

Und wie fremd mir die Ost-Reclam-Bände nach der Wende waren, als ich ihrer zum ersten Mal ansichtig wurde, auf Berliner Flohmärkten. Ich kaufe auch heute noch lieber die gelben aus Stuttgart. Westsozialisation.


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